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Wenn ein Wort allein eine kleine Predigt ist

«Barmherzig und gnädig ist Gott!» Was für uns eine starke Ermutigung ist, kann einem Bibelübersetzer Kopfzerbrechen bereiten. Was genau ist der Unterschied zwischen «barmherzig» und «gnädig»? Und wie ist überhaupt das deutsche Wort «Barmherzigkeit» entstanden?

In der deutschen Sprache haben wir den Luxus, dass gleich zwei Wörter mit sehr ähnlicher Bedeutung für unser Thema zur Verfügung stehen: «Barmherzigkeit» und «Erbarmen». In beiden steckt die Silbe barm; das hat seinen Grund in der Geschichte:

«Barmherzig» und «Erbarmen»

Als das Christentum aufkam, brauchte es einen Wortschatz für die christliche Lehre, darunter auch ein Wort für «barmherzig». Inspiriert vom Wort in der Ausgangssprache, dem lateinischen misericors, bildete man aus zwei vorhandenen Wörtern eine neue Zusammensetzung. Miser heisst «arm, elend» und cors «Herz», was als *arm-herzig[1] im Sinn von «ein Herz für die Armen habend» in das Althochdeutsche, die frühe Form des Deutschen, übernommen wurde. Das «b» kam später dazu und so heisst es noch heute b-arm-herzig.

Parallel dazu brauchte man ein Wort für «sich erbarmen». Im Althochdeutschen gab es schon das Wort armen mit der Bedeutung «arm werden, Not leiden». Um das neue Wort von armen zu unterscheiden, fügte man die Vorsilbe bi- hinzu (entspricht dem heutigen be-, wie in be-arbeiten): *bi-armen verschmolz zu barmen. Ein paar Jahrhunderte später kam die Vorsilbe er- hinzu (wie in er-arbeiten): erbarmen oder als Nomen Erbarmen hat sich bis heute gehalten. So viel zur deutschen Sprachgeschichte.[2]

Und in Afrika?

Afrikanische Sprachen sind manchmal in derselben Situation wie unsere deutsche Sprache vor 1000 Jahren: Die Bibelübersetzung erfordert einen Wortschatz für abstrakte Dinge (zum Beispiel für verschiedene Tugenden), den es so differenziert noch gar nicht gibt. Welche Lösungen stehen einem afrikanischen Übersetzer zur Verfügung?

Die einfachste Lösung wäre ein Lehnwort aus einer anderen Sprache. Tatsächlich stand in einer früheren Version der Sango-Bibel in Zentralafrika das französische Wort «grâce» für «Gnade». Wenn ein Sango-Sprecher dies las, hatte er jedoch keine Ahnung, was das bedeutete.

Eine andere Option besteht darin, aus dem vorhandenen Vokabular neue Begriffe zu schmieden. Das hat jedoch den Nachteil, dass diese neuen Wörter zuerst von der Sprachgemeinschaft angenommen werden müssen. Ein Beispiel dafür, dass dies funktionieren kann, ist das Wort für «Glauben» auf Sango: vor 60 Jahren schuf man das Wort ma-be, wörtlich «Hören-Herz»; heute ist das Wort im Land gut verankert.

Ein konkretes Beispiel: susu auf Sissala

Drittens, und das wäre die beste Lösung, existiert manchmal in einer Sprache schon ein Begriff; oft ist er jedoch nicht deckungsgleich. Auf Sissala (Burkina Faso) gibt es das Wort susu, das regelmässig gebraucht wird, um «Barmherzigkeit» oder «Erbarmen» auszudrücken. Das Wort susu selber jedoch heisst nicht «Barmherzigkeit», sondern bezeichnet den Zustand eines Menschen, dem man Barmherzigkeit entgegenbringt, also eher «Elend», «Jammer». Daneben gibt es ein Wort, das dem deutschen Wort «Barmherzigkeit» näherkommt: susu-fárʋ (wörtlich «das Rennen zum Elend»).

Wie das Sissala-Beispiel zeigt, können Begriffe und Ausdrücke für Barmherzigkeit sehr bildhaft sein. In Afrika kommt oft das «gute Herz» vor; «seid barmherzig» heisst zum Beispiel auf Sango «macht euer Herz sehr gut zu den Menschen». Für uns geradezu fremd ist die Ausdrucksweise im Ninkare (Burkina Faso): «er hat Erbarmen mit mir» heisst dort wörtlich: «er rennt mein schwaches Auge». Darin sehen die Ninkare die Idee, dass man den anderen nicht mit scharfem, sondern mit weichem Auge anschaut und ihm dann zu Hilfe eilt. So steckt im entsprechenden Begriff einer anderen Sprache manchmal eine kleine Predigt!

Das Wunder der Sprache ist, dass jede Sprache alles ausdrücken kann; nur die Art und Weise variiert je nach Sprache stark.

Lukas Neukom

Der Artikel erschien in dieser Form in der Zeitschrift insist 4/2019.

[1] Der Stern * bedeutet, dass das Wort so rekonstruiert wird, aber nicht genau in dieser Form belegt ist.

[2] Vgl. Pfeifer, Wolfgang et al.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, einsehbar im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS).