En  De  Fr  

Wie ist es mit dem Lesen und Schreiben?

In den vorliegenden Lektionen wird auf Lesen und Schreiben anfänglich verzichtet. Dieses Vorgehen steht im Gegensatz zum traditionellen Fremdsprachenunterricht, wo ab der ersten Stunde die Recht­schreibung mitgelernt wird.

Das Aufschieben hat verschiedene Gründe:

  • In der Anfangsphase geht es vor allem um das Verstehen. Die Lernenden sollen sich voll und ganz auf das Zuhören, Verarbeiten und Reagieren konzentrieren können. Papier und Stift lenken davon ab.
  • Wenn die Schrift von Anfang an im Unterricht eine wichtige Rolle spielt, haben bildungsferne Menschen keine Chance. Sie sind aber genauso fähig, sich in einer fremden Sprache verständigen zu lernen wie die Schriftkundigen.
  • Wenn der Unterricht auf dem Geschriebenen aufbaut, fällt die Vermittlung von mündlichen Kommunikationsfähigkeiten in der Regel unter den Tisch.
  • Die offiziellen Deutschkurse legen in aller Regel viel Gewicht auf das Schriftliche. Wir schaffen mit unseren Lektionen ein Gegengewicht dazu.

Aus diesen Gründen verzichten wir auf Schreibübungen, Arbeitsblätter und dergleichen.

Wenn Migranten längerfristig hier leben wollen, müssen sie sich natürlich irgendwann mit unserer Schrift und Rechtschreibung vertraut machen, dies ist völlig klar. Wenn ehrenamtliche Helfer an den Punkt kommen, den Lernenden dabei helfen zu müssen oder zu wollen, gibt es ein paar Dinge zu bedenken.

Zunächst gilt es, sich bewusst zu machen, dass es unter den Lernenden in der Arbeit mit Geflüchteten bezüglich Lesen und Schreiben drei Gruppen von Menschen gibt: a) Analphabeten die auch in ihrer Muttersprache nicht lesen und schreiben können (primäre Analphabeten, b) Menschen, die zwar lesen und schreiben können, mit unserem lateinischen Alphabet aber nicht vertraut sind (sekundäre Analphabeten), und c) jene, die unser Alphabet bereits kennen und „nur“ noch unsere Rechtschreibregeln lernen müssen.

Einem erwachsenen Analphabeten Lesen und Schreiben beizubringen, ist nicht einfach. Wenn man es falsch angeht, kann man durchaus Schaden anrichten. Dies sollte deshalb nicht die Aufgabe von ungeschulten Helfern sein. Analphabeten sollten auf jeden Fall zuerst einen Grundstock an mündlicher Sprachfertigkeit aufbauen, bevor sie Lesen und Schreiben lernen. Wenn Lesen und Schreiben in einer Sprache eingeführt werden, von der die Lernenden noch (fast) nichts verstehen, ergeben die Schriftzeichen keinen Sinn und das Lernen wird sehr erschwert.

Wir möchten hier auch darauf hinweisen, dass Menschen der Gruppen a) und b) sehr unterschiedliche Bedürfnisse haben, und nicht gemeinsam in einer Lerngruppe unterrichtet werden sollten. (Für den mündlichen Unterricht können sie jedoch durchaus gemeinsam lernen.)

Wer nun an den Punkt kommt, dass er z.B. arabischsprachigen Menschen die lateinische Schrift beibringen muss, kann auf Material wie den Alphabetisierungskurs des Hueber-Verlags zurückgreifen (Anja Böttinger: Schritte plus Alpha 1-3), oder auch das Hamburger ABC (Herma Wäbs, Lehrwerk zur Alphabetisierung und Grundbildung).

In unseren Lektionen wird Lesen ab Lektion 41 einbezogen, das Schreiben ab Lektion 46. Für Menschen mit gutem Bildungshintergrund ist es allerdings nicht sinnvoll, so lange zu warten. Lernende mit gutem Bildungshintergrund, die zudem vertraut sind mit dem lateinischen Alphabet, können schon ab der ersten oder zweiten Lektion solche Wortlisten erhalten. Oder man druckt die Wörter direkt hinten auf die Bilderbögen. Es macht durchaus Sinn, dass sie schon sehr bald sehen, wie die Wörter, die sie lernen, geschrieben werden. Manche fühlen sich gestresst durch das Schreibeverbot, weil sie den Eindruck haben, die Wörter zu „verlieren“. Wir wollen ja aber den Stress möglichst niedrig halten, damit sie den Kopf frei haben, um Neues zu lernen. Andererseits sollen sie bei Versteh-Übungen nicht ständig alles Neue aufschreiben, da das Schreiben vom Zuhören ablenkt. Zudem ist es ja hilfreich für das Zurechtfinden im Alltag, wenn sie schon bald Straßenschilder, Wegweiser, Busaufschriften, Beschriftungen im Laden usw. lesen können.

Wir empfehlen auch für Lerngruppen mit gutem Bildungshintergrund die betreffenden Abschnitte im Vorlauf der Lektionen 41 und 46 zu lesen, bevor man mit Lesen und Schreiben beginnt.

Und es ist auch für gebildete Lernende sinnvoll, das Lesen auf dem Hörverständnis aufzubauen, und die mündlichen Übungen klar vom Lesen und Schreiben zu trennen.

Nun gibt es aber auch bildungsferne Lernende, die unbedingt schon in der Anfangsphase etwas Schriftliches mit nach Hause nehmen möchten. Wenn sie sich wirklich nicht auf später vertrösten lassen wollen, kann die Sprachpatin am Ende der Stunde Wortlisten mit den an diesem Tag gelernten Wörtern abgeben. Diese Wortlisten sollten nur angeboten werden, wenn eine Lerngruppe danach fragt. Auf keinen Fall sollen jene, die nicht lesen können, unter Druck gesetzt werden. Wenn aber Wortlisten ausgeteilt werden, dann soll niemand in der Gruppe von den Listen ausgeschlossen werden. Sonst fühlen sich Leseunkundige möglicherweise als minderwertig. Und auf jeden Fall soll immer allen klar sein, dass das Schriftliche nicht wichtiger oder besser ist als das Mündliche.