Als Lehrkräfte mit und für Menschen

Johannes und Sharon Merz arbeiten seit 2002 mit Wycliffe in Benin. Seit dem Abschluss ihres Studiums der Ethnologie mit je einem Doktorat engagieren sich beide schon viele Jahre für das Mbelime-Bibelübersetzungsprojekt, wirken zudem als Beratende bei SIL International mit, deren Abteilung für Ethnologie Sharon seit 2020 leitet. Als Verantwortliche für die Aus- und Weiterbildung von Studierenden aus mehreren Nationen Afrikas sind sie gerne bereit, aus ihrer Lehrtätigkeit zu berichten.

Was ist eure Erfahrung im Ausbilden von Mitmenschen?

Um Mitarbeitende von Wycliffe und ihrer Partnerorganisation SIL auszubilden, unterrichten wir seit 2009 Ethnologie, vor allem für einheimische Bibelübersetzende oder entsprechende Fachleute in diversen Einsatzländern.

Wie würdet ihr die Begriffe ‹lehren, bilden, befähigen› umreissen?

Was das Lernen betrifft, sind die Vorstellungen sowohl gesellschaftlich als auch persönlich bedingt. Jeder Mensch bringt daher andere Erwartungen mit. In Benin, wo wir leben, lernen etwa Kinder Feld- und Hausarbeiten hauptsächlich durch Abschauen und Nachmachen. Sobald sie zur Schule gehen, müssen sie landläufiges «Pflichtwissen» auswendig lernen. Kreativere Lehrmethoden kommen in Klassen mit bis zu 60 Kindern kaum zur Anwendung.
Ein Mensch lernt allerdings nicht um des Lernens willen, sondern um zu verstehen, was er lernt. Nur dadurch ist er in der Lage, das Gelernte zu beherzigen, ja zu behalten und anzuwenden, um dann die Arbeit gut erledigen, den Alltag besser bewältigen und im Leben weiterkommen zu können. Bei solch einem Verständnis von Bildung liegt die Hauptverantwortung beim Lernenden selbst. Indem er sich auf ein Bildungsabenteuer einlässt und auf ein Bildungsziel ausrichtet, öffnet er sich der Welt und bildet sich im Umgang mit jeder neuen Situation weiter.
Menschen zum Lernen anzuregen und dabei Wissensbestände oder Denkanstösse so zu vermitteln, dass sie gut verständlich und gäbig verwertbar sind, ist Sharons und meine Aufgabe. In jedem Kurs beschreiben wir Unterschiede zwischen einzelnen Menschen oder Gesellschaften, die wir selbst festgestellt haben. Wir erklären, wie man diese deuten und verstehen kann. Um die Kursteilnehmenden zu gründlichem Nachdenken anzuregen, stellen wir Fragen, die ihnen ermöglichen, in einem grösseren Zusammenhang miteinander über selbst Erlebtes zu reden. So entwickeln sie die Fähigkeit, das Gelernte auf ihren Alltag zu übertragen und in die eigene Lebenswelt zu integrieren.
Dieses Jahr hat eine unserer Studentinnen mit langjähriger Auslandserfahrung staunend festgestellt, dass sie in zwei Wochen mehr gelernt hat als in ihrem ganzen Leben.

Was motiviert euch, zu lehren?

Zu sehen wie Menschen dank unserer Kurse die Vielfalt menschlicher Lebenswelten besser verstehen und wie ihnen diese erweiterte Wahrnehmung im Alltag zugutekommt, spornt uns laufend an.
Dass wir beide die Möglichkeit hatten, bis zum Doktorat zu studieren, ist alles andere als selbstverständlich. Wir erlebten das Studium als sehr bereichernd. Deshalb möchten wir das erworbene Wissen und unsere Erfahrung an andere weitergeben und zudem fähige Studierende dazu ermutigen, selbst ein Doktorat in Betracht zu ziehen.
Akademische Disziplinen wie Ethnologie so zu unterrichten, dass sie gut verständlich und auch leicht auf konkrete Situationen anwendbar sind, ist nicht einfach. Als Lehrer ist uns Paulus ein Vorbild. Er war nicht nur fachlich bestens ausgebildet, sondern gab sich mit Leib und Seele ins Lehramt: Was er lehrte, das lebte er selbst vor. Dies streben auch wir an und hoffen, dass unser Unterricht im Leben der Teilnehmenden vielfach fruchtet.

Das Lehren erfolgt ja nicht nur in Kursen. Begleitet ihr die Studierenden in ihrem beruflichen Werdegang auch individuell?

Grundsätzlich eignen sich die Kurse, die wir anbieten, für alle Interessierten, wobei uns wichtig ist, Kolleginnen und Kollegen so individuell wie professionell zu begleiten. Wer immer in einem Fachbereich eine besondere Begabung zeigt, soll entsprechend gefördert werden. In einem Mentoring begleiten daher Sharon und ich abwechselnd jeweils einige von ihnen mit dem Ziel, dass sie ihr Potenzial optimal ausschöpfen.

Was heisst ‹Mentor sein› in eurer Situation?

Als Mentoren ist uns in erster Linie wichtig, den Mentees – das heisst den Personen, die wir begleiten – zuzuhören. Es gilt, wichtige Dinge durch gezielte Fragen anzusprechen, gegebenenfalls unsere Meinung und Erfahrung zu teilen, eventuell Bedenken zu äussern und dort, wo wir ein Potenzial entdecken, herzhaft Mut zu machen.
Eine Mentor-Mentee-Beziehung soll sich nach den individuellen Bedürfnissen der Beteiligten ausrichten und kann mehr oder weniger formell ausfallen. Entscheidend ist der regelmässige Gedankenaustausch: per E-Mail, per Zoom, am besten aber – wann immer möglich – persönlich. Die Initiative zum Gespräch ergreift in der Regel die Mentorin oder der Mentor, also unsere Seite. Wir begrüssen es aber auch, wenn Mentees mit Fragen oder einem Anliegen auf uns zukommen. In jedem Fall ist eine gute Beziehung die beste Grundlage für ein erfolgreiches Mentoring. Wer in seinem speziellen Fachgebiet als Berater oder Beraterin anerkannt werden möchte, hat bei SIL auch die Möglichkeit, ein formelles Mentoring zu absolvieren.

Würdet ihr bitte erklären, was ‹formelles Mentoring› bedeutet?

Für das formelle Mentoring gibt es einen sogenannten kompetenzorientierten Bildungsplan. Er wird anhand von gezielten Fragen individuell abgestimmt: Wie und bis wann können die angestrebten Kompetenzen erreicht werden? Welche Vorgehensweise, welche Hilfsmittel und Methoden sind dafür hilfreich? Sobald die angepeilten Lernziele dieses persönlichen Bildungsplans erreicht sind, werden Mitarbeitende als Fachleute anerkannt: Sie übernehmen dann zum Beispiel eine Aufgabe als Ethnologie-Berater/in, als Alphabetisierungs- oder Übersetzungsberater/in. In dieser Funktion haben sie zudem die Möglichkeit, sich selbst in der Rolle eines Mentors zu bewähren … Zurzeit begleiten wir vier Kolleginnen und Kollegen, die alle einen Bildungsplan verfolgen.

Gibt es besondere Herausforderungen beim interkulturellen Mentoring?

Wenn Mentor und Mentee nicht denselben kulturellen Hintergrund haben, ist es besonders wichtig, dass sie sich zunächst über Ziel und Vorgehensweise einigen. Auch gilt es, die Art der Kommunikation miteinander zu thematisieren und offen zu diskutieren, um Missverständnisse und peinliche Situationen zu vermeiden. Darin liegt wohl die grösste Herausforderung.
Interkulturelles Mentoring ist sehr anspruchsvoll, aber ebenso lehrreich. Es ermöglicht mehr zwischenmenschliche Nähe auf gleicher Augenhöhe, lässt in unseren Beziehungen mehr Tiefgang zu. So heikel und zeitintensiv Mentoring auch immer sein mag, es lohnt sich in jedem Fall. Zumal die wechselseitige Bereicherung weit überwiegt.